Der ein oder andere mag sich schon gefragt haben, warum ich hier bislang noch gar keine Buchrezensionen veröffentlicht habe, obwohl die meisten von euch ja wissen, wie viel und gern ich lese. Ich gebe zu, dass ich mich ein bisschen davor gedrückt habe, weil ich befürchtete, dem Buch, das ich nun besprechen möchte, nicht gerecht werden zu können. Diese Gefahr besteht natürlich immer noch. Aber jetzt werden Nägel mit Köpfen gemacht:
Wölfe von Hilary Mantel. Man könnte sagen, dies sei ein historischer Roman. Und damit läge man auch nicht falsch. Protagonist ist Thomas Cromwell, Sohn eines einfachen Schmieds, später Staatsmann und Politiker unter König Henry VIII. von England. Zeitraum des Romans: Cromwells politischer Aufstieg von 1528 bis zum Höhepunkt seiner Macht und der Hinrichtung seines politischen Gegners Thomas More im Jahr 1535.
Das Genre des Historienromans neigt ja generell dazu, historische Fakten derart aus dem Kontext zu reißen und neu zu ordnen, bis sie den dramaturgischen Regeln der Trivialliteratur entsprechen. Historisches wird zur Kulisse, zum Schauplatz für die eigentliche Handlung, die meist dermaßen unserem modernen Weltbild entspricht, dass das Ergebnis vielleicht eine nette Liebesgeschichte oder Ähnliches ist, aber nicht mehr viel mit Geschichte zu hat. Ich spreche hier von populären historischen Romanen à la Iny Lorentz etc.
Wenn diese Art von Büchern den "typischen" Historienroman verkörpert, dann sollte man jedoch spätestens nach der Lektüre von Wölfe dieses Genre neu definieren. Denn Mantel schreibt nicht nur mit genauester Sachkenntnis der geschichtlichen Fakten, sondern erweckt den Hof Henrys VIII. zum Leben und bevölkert ihn mit Personen, die unglaublich plastisch und vor allem historisch glaubwürdig wirken.
Thomas Cromwell wurde häufig als kalter, bislang grausamer Machtmensch beschrieben. Mantels Cromwell ist jedoch viel komplexer, sie deutet diese interessante Figur der englischen Geschichte neu: Durchaus als machtbewussten Strategen, Intrigant und Taktiker. Aber gleichzeitig sensibel, loyal, voller Wärme für seine Mitmenschen, überraschend humorvoll. Obgleich der Leser an seiner Gedankenwelt teilhat, bleibt dieser Cromwell rätselhaft. Immer wenn man glaubt, man kenne ihn nun, überrascht er einen von neuem und entzieht sich einer klaren Charakterisierung. Bis zuletzt fragt man sich, was diesen Mann eigentlich antreibt, was seine Motivation ist. Ist es tatsächlich der reine Machthunger?
Denn Macht ist ein zentrales Thema des Romans. Wie funktioniert sie, wie erlangt und verliert man sie, was für Auswirkungen kann sie haben? Cromwell versteht die Mechanismen der Macht und weiß sie zu nutzen. Er ist ein Tausendsassa: Jurist, Kaufmann, Drahtzieher. Und Chamäleon: Überall fühlt er sich zu Hause, jede Sprache kann er sprechen, nicht nur sämtliche mitteleuropäischen Sprachen, sondern auch die Sprache der einfachen Menschen (er selbst ist einer von ihnen, Sohn eines Schmieds), die Sprache der Gelehrten, die der Politiker, die eines Freundes. Cromwell beherrscht sie alle. Sein geniales Talent offenbart sich im Übersetzen einer dieser Sprachen in eine andere, im Vermitteln zwischen allen Parteien. Jedermann fühlt sich von ihm verstanden. Und Cromwell gelingt es immer wieder, die Menschen zu überreden, das zu tun oder zu glauben, was ihm nützt. Das ist wahre Macht: Die Gabe der Überredungskunst und Manipulation. Darin ist Cromwell unübertroffener Meister. Denn Politik findet in den kleinen Hinterzimmern statt, nicht bei den großen offiziellen Treffen und Festlichkeiten.
Abgesehen von diesem faszinierenden Protagonisten ist Wölfe auch sprachlich einfach großartig. Mantel schreibt im Präsens, was angesichts des historischen Themas ungewöhnlich ist, aber funktioniert: Dadurch wird das Geschehen aktuell und unmittelbar. Die Sprache ist klar, einfach und manchmal von überraschender Poesie und Schönheit. Man muss sich Zeit nehmen für diesen Roman, die Sprache genießen, den richtigen Rhythmus finden.
Mich hat Wölfe sehr beeindruckt. Dieser rätselhafte Mann, für den man Sympathien entwickelt, obgleich man ihn nie richtig verstehen lernt, die verhaltene Schönheit der Sprache, all das hallt in einem nach, auch wenn man die letzte Seite schon vor einiger Zeit zugeklappt hat.
Angeblich soll Mantel an einer Fortsetzung arbeiten, was sinnig wäre, da Cromwells Geschichte noch längst nicht zu Ende erzählt ist: Der echte Cromwell stieg immer weiter auf bis hin zum Amt des Lord Great Chamberlain, wurde jedoch 1540 als Verräter enthauptet, weil er mit dem Protestantismus sympathisierte.
Noch eine kurze Anmerkung: Schaut auf gar keinen Fall die Serie Die Tudors, während ihr das Buch lest (ich habe sie in meinem letzten Post kurz vorgestellt). Zwar ist der erzählte Zeitrahmen derselbe, aber man kommt nur durcheinander mit den unterschiedlich interpretierten Charakteren. Also wenn euch die Thematik interessiert: Lest lieber das Buch anstatt die Serie zu gucken! Das ist sowohl historisch korrekter als auch einfach viel, viel besser.
Wisst ihr, woran es liegt, dass mein nächster Eintrag immer so lang auf sich warten lässt? Der Grund ist, dass es einfach so verdammt viele gute Filme, Serien und Bücher gibt, dass ich mich schlichtweg nicht entscheiden kann, worüber ich als nächstes schreiben soll.
Und genau aus diesem Grund wird es heute ein wenig kompakter. Ich stelle euch kurz und knapp meine Highlights aus den letzten Wochen vor.
Kino
Natalie Portman spielt im Film Black Swan die ängstliche, gehemmte Ballerina Nina, die zum ersten Mal eine Hauptrolle tanzen darf - sie verkörpert in einer Adaption des Schwanensees sowohl den weißen als auch den schwarzen Schwan. Obgleich sie für die Rolle des weißen Schwans wie geschaffen scheint, stellt der schwarze Schwan eine Herausforderung dar: Nina muss lernen loszulassen und die dunkle Seite in sich wach zu rufen, was ihr als zwanghaftem Kontrollfreak und Perfektionistin nicht leicht fällt. Von ihrer neurotischen Mutter überwacht und angebetet, vom Regisseur verführt und unter Druck gesetzt und von einer Konkurrentin hintergangen, in der sie eine Freundin gewonnen zu haben glaubte, gestalten sich die Proben bis zur Premiere zu einem einzigen Alptraum, in dessen Verlauf weder Nina noch die Zuschauer mehr zwischen Realität und Halluzination unterscheiden können…
Sehr spannender Film über die Abgründe in einer Seele. Warnung an alle Tanzfilmfans, die nur ein bisschen Ballett sehen wollen: Keine leichte Kost! Viele eklige Szenen! Aber gut, richtig gut.
Black Swan; Regie: Darren Aronofsky; USA; 2010; 103 min.
Film
Der Hype um den Film Das Leben der Anderen ist damals ziemlich an mir vorbeigegangen, vor ein paar Wochen habe ich ihn dann zum ersten Mal gesehen.
1984 in Ostberlin: Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler bekommt den Auftrag, den erfolgreichen Schriftsteller und Dramatiker Georg Dreyman zu bespitzeln, um belastendes Material gegen ihn zu sammeln. In den folgenden Wochen sitzt er in einem improvisierten Büro auf dem Dachboden von Dreymans Haus und verfolgt mithilfe von Überwachungskameras und versteckten Wanzen dessen Privatleben. Ohne die Abhörmaßnahme zu bemerken, üben Dreyman und seine Freundin mit ihrem westlichen Lebensstil und ihren Freiheitsidealen eine große Faszination auf Wiesler aus und er beginnt zum ersten Mal, die DDR-Strukturen infrage zu stellen…
Ein bewegender Film, vor allem durch das sensible Schauspiel des leider bereits verstorbenen Ulrich Mühe.
Das Leben der Anderen; Regie: Florian Henckel von Donnersmarck; BRD; 2006; 137 min.
Serie
Georgia ist 18 Jahre alt und gefrustet von sich und der Welt, als sie von einer glühenden Klobrille aus dem Weltraum erschlagen wird. Von nun an ist sie Angestellte des Todes und dafür verantwortlich, die Seelen der Sterbenden von ihren Körpern zu lösen. Gemeinsam mit ihren drei Kollegen ist sie für die Abteilung „Tod durch Fremdeinwirkung“ zuständig. Das sorgt immer wieder für schräge Situationen, die Georgia mit trockenem Humor kommentiert. Trotzdem ist die Serie Dead Like Me nicht albern, sondern reflektiert durchaus die Absurdität des Todes als bürokratischen Prozess und dessen makabren Charakter.
Für Fans von Pushing Daisies ein Muss!
Dead Like Me - So gut wie tot; USA; 2003-2004; 2 Staffeln
Völlig anderes Genre, völlig anderes Thema:
Henry VIII. dürfte den meisten bekannt sein als der englische König, der sechs Ehefrauen hatte, sich vom Papst lossagte und die anglikanische Kirche begründete. Die Serie Die Tudors erzählt, wie es hierzu kam und beginnt bei der schicksalhaften Begegnung von Henry und Anne Boleyn. In überraschend vielen Details hält sich die Serie an historische Fakten. Einige größere Abweichungen sind zwar festzustellen, aber im Hinblick auf die Dramaturgie zu entschuldigen. Wer sich für Geschichte interessiert, kommt hier auf jeden Fall auf seine Kosten und auch andere dürften hieran Spaß finden: Jede Menge Intrigen, Mord und Totschlag, Liebe, Sex und üppige Kostüme.
Filmisch jedoch nicht immer einwandfrei: Besonders geärgert habe ich mich bei einer Szene in einer schaukelnden Kutsche, bei der alles, auch die Schauspieler, sehr überzeugend schaukelte - nur das Glas Wein auf dem Tisch stand völlig still da...
Die Tudors; GB, Irland, USA, Kanada; 2007-2010; 4 Staffeln
Gesichtet: I Am Sam, Regie: Jessie Nelson, 2001, 127 min.
Wer ist Sam? Er hat einen Job bei Starbucks, ist alleinerziehender Vater und tiefbegabt. Sam bleibt Zeit seines Lebens auf dem Entwicklungsstand eines Siebenjährigen. Die Frage ist nun: Was passiert, wenn seine kleine Tochter Lucy acht wird?
Lucy ist normal begabt und weiß um die Andersartigkeit ihres Vaters. Als sie in die Schule kommt und bald besser lesen kann als Sam, reagiert sie zunächst mit Leistungsverweigerung, um ihren Vater nicht zu überflügeln. Als dieser ihr jedoch klar macht, wie viel Freude es ihm bereitet, eine kluge Tochter zu haben, stellt sie diese Versuche zwar ein, schämt sich vor ihren Schulkameraden aber für ihn, der so anders ist als andere Väter. In dieser Zeit werden die Behörden auf Sam und Lucy aufmerksam und entziehen ihm vorerst das Sorgerecht. Sam, völlig überfordert mit der Situation, hat unerwartetes Glück, als sich die erfolgreiche Anwältin Rita unentgeltlich seines Falles annimmt, um ihr Image aufzupolieren. Gemeinsam kämpfen sie um die Rückgabe des Sorgerechts, während Lucy bei Pflegeeltern unterkommt.
Eigentlich geht es in diesem Film aber gar nicht um Sam. Es geht auch nicht um Lucy. Es geht um Rita, die unsere Leistungsgesellschaft verkörpert: Schnell, ungeduldig, ans Siegen gewöhnt, das Lieben verlernt. Die Spannung ergibt sich aus den Gegensätzen, die aufeinander prallen: Sam ist zu langsam für Rita, versteht die vielen komplizierten Regeln dieser Welt nur zum Teil, kann dafür aber seine Gefühle zum Ausdruck bringen – etwas, das Rita erst in einem langen, schmerzhaften Prozess lernen muss.
Dass in dieser krassen Gegenüberstellung auch Klischees bedient werden, ist vermutlich unvermeidbar. Nett sind dabei aber einige Metaphern, welche die typischen Eigenschaften der Protagonisten überspitzen; so schimpft Rita ständig über die Sprachaktivierung ihres Autotelefons, das immer die Nummer des Büros wählt, wenn sie eigentlich zu Hause anrufen will.
Viele Verweise gibt es auf die Beatles (vermutlich habe ich nur einen Bruchteil entdeckt, u. a. wird der berühmte Gang über den Zebrastreifen nachgestellt), für die Sam schwärmt. Immer wenn er sich in die Ecke getrieben fühlt, antwortet er mit Anekdoten von den Beatles, was zum Teil jedoch bemüht wirkt, da die hier beschworenen Gleichnisse oft weit hergeholt und nicht wirklich glaubhaft für einen Mann mit Sams Intelligenz wirken.
Die Stärken des Films liegen aus meiner Sicht vor allem in der Kameraführung. Meist wird eine Handkamera genutzt, die Sams emotionales Befinden stark unterstreicht, vor allem wenn er sich bedrängt fühlt und innere Not leidet. Auch Ritas Ungeduld und Hektik wird von der Kamera häufig zum Ausdruck gebracht. Das Licht unterstreicht Sams Befinden ebenso deutlich: Zu Hause, gemeinsam mit Lucy wirkt alles freundlich und warm; im Gericht sowie in Ritas Büro und Zuhause dominieren kalte, blaue Farben.
Trotz der eindeutigen Darstellung Sams als gütigen, auf seine Art weisen Mann, kann man als Zuschauer nicht umhin zu fragen, ob sein Kampf um das Sorgerecht für Lucy wirklich legitim ist. Seine Liebe für Lucy steht dabei vollkommen außer Frage, jedoch ist wohl klar, dass sich spätestens in der Pubertät Probleme ergeben werden, die zu begreifen er vermutlich nicht in der Lage ist. Der Film löst diese Problematik, indem Sam die zwischenzeitliche Pflegemutter seiner Tochter auch für die Zukunft um Hilfe bittet, eine endgültige Stellung wird diesbezüglich aber nicht bezogen.
Insgesamt ist I am Sam kein schlechter Film. Jedoch haben mich die Klischees der gestressten Businessfrau auf der einen und des weisen Tiefbegabten auf der anderen Seite extrem gestört. Die Moral, dass man sich durch die Hektik des Berufslebens nicht von den wirklich wichtigen Dingen im Leben entfernen darf, sondern zu einer natürlichen Langsamkeit zurückfinden und Gefühle (und das Ausleben dieser Gefühle) zulassen sollte, ist zwar gut und schön, doch wirkt recht dick aufgetragen. Dass Hollywood es wieder mal nicht vermeiden konnte, eine – sehr unrealistische! – Liebesgeschichte mit einfließen zu lassen, ist schade, denn die beiden Hauptdarsteller Sean Penn und Michelle Pfeiffer spielen beide so stark, dass der Film darauf hätte verzichten können. Die Geschichte an sich hätte das Potential gehabt, wichtige Thematiken anzusprechen, anstatt hier jedoch differenziert und kritisch zu sein, flüchtet sich der Film in ein banales Hollywodkonzept.
Noch eine kurze Anmerkung: Der Film sollte wirklich auf englisch geschaut werden, da Sean Penns schauspielerische Leistung von der deutschen Synchronisation nicht so richtig eingefangen werden kann.