Sonntag, 3. Juli 2011

Vom Willen zur Blasphemie

Sträflich lange habe ich diesen Blog vernachlässigt, ich weiß. Hoffentlich sind mir nicht schon ein paar Leser flöten gegangen! Heute endlich habe ich mir mal wieder die Zeit für eine ausführliche Buchbesprechung genommen.

Es geht um The Final Testament of the Holy Bible von James Frey. Klingt wie schwere Kost, ist tatsächlich aber leicht zu lesen, zumindest sprachlich… über den Inhalt lässt sich streiten, aber dazu komme ich später. Zunächst ein paar einleitende Worte über James Frey, der hierzulande kaum bekannt ist:

In den USA gilt er als Skandalautor. Grund sind seine beiden ersten Bücher A Million Little Pieces und My Friend Leonard, in denen Frey autobiographisch seine Vergangenheit als Junkie und Krimineller aufarbeitete. Beide Bücher führten in den USA lange die Bestsellerlisten an, bis sich Jahre später herausstellte, dass ein großer Teil seiner Geschichte rein fiktional ist. Das Ganze zog weite Kreise, unter anderem, weil Oprah Winfrey seine Bücher öffentlich empfohlen hatte und ihn in ihrer Show dann mit den Vorwürfen konfrontierte. Er gab offen zu, gelogen zu haben und musste daraufhin den Verlag wechseln…

Zu diesem Skandal ließe sich noch jede Menge mehr erzählen, doch hierbei will ich es zunächst belassen – wer will, kann sich hier ein Video dazu anschauen. Ganz amüsant eigentlich, das Ganze.

2008 schließlich feierte Frey mit Bright Shiny Morning sein Comeback, das ihn als ernst zu nehmenden Autor in der amerikanischen Literaturszene etablierte. The Final Testament of the Holy Bible ist dieses Jahr erschienen und bisher nur auf Englisch erhältlich. Angekündigt auf dem Cover als „his greatest work, his most revolutionary, his most controversial” und so weiter und so fort. Ihr könnt bestimmt nachvollziehen, dass ich neugierig wurde.


Ben ist ein etwas merkwürdiger Typ. Er wohnt als einziger Weißer in einer Gegend in New York, die ansonsten nur von Latinos und Schwarzen bevölkert ist. Er trinkt zu viel, hält nicht viel von Ordnung und Hygiene und scheint eine traumatische Vergangenheit zu haben, über die er nicht spricht. Bis eines Tages eine tonnenschwere Glasplatte bei einem Unfall auf einer Baustelle auf ihn fällt. Unerklärlicherweise überlebt Ben. Und ist verändert: Er verfällt in Starrkrämpfe, in denen er mit Gott spricht. Er strahlt von innen heraus, er erkennt die innersten Ängste eines jeden und vermag sie durch eine einfache Berührung zu heilen. Er spendet Trost und Hoffnung, vor allem jenen, die in der Gesellschaft keinen leichten Stand haben: Den Obdachlosen, den Drogensüchtigen, den Verzweifelten. Der Messias? Alle behaupten es, er selbst äußert sich nicht dazu. Stattdessen lehnt er die Kirche ab, verkündet die nahende Apokalypse: Die Menschheit richte sich selbst zugrunde, überall gebe es Hass, Missgunst, Gier. Liebe allein könne die Welt retten. Gott, wie ihn sich die Menschen vorstellten, gebe es nicht, stattdessen existiere nur eine spirituelle Macht, der die Menschen gleichgültig seien. Deshalb sei das Streben, diesem imaginären Gott zu gefallen, sinnlos. Man ist für sein eigenes Schicksal verantwortlich.

Ben provoziert mit diesen Ansichten, denn er lebt, was er glaubt: Er schläft mit allen, Männern wie Frauen, ordnet sich nicht in das gesellschaftliche System ein, weil er keine Obrigkeiten anerkennt, geht keine Verpflichtungen ein. Das wiederum stürzt all jene religiösen Fanatiker, die in ihm den Messias erkennen und unbedingt erkennen wollen, in Verwirrung und erzeugt Ablehnung. Eine besondere Rolle nimmt hierbei der leibliche Bruder Bens ein, der Kopf einer kleinen, fanatischen Sekte ist und Ben für seine Zwecke einspannen will. Seine Gefühle für Ben sind zunächst ambivalent und schlagen schließlich aus Neid in Hass um.

So stößt Ben alle möglichen Leute vor den Kopf und sammelt dennoch eine große Schar Anhänger um sich, an denen er seine Wunder vollbracht hat. Unweigerlich steuert das Ganze auf ein großes Finale zu, bei dem sich fanatische Religiosität, Sturheit und das erstarrte gesellschaftliche System auf der einen Seite und Bens Verkündung einer Welt voller Liebe und Toleranz auf der anderen Seite krass gegenüberstehen.

Ben ist quasi eine Art Hippieguru (verzeiht die dürftige Wortschöpfung). Seiner Moral kann man nur schwer widersprechen, sie erscheint aber nach einiger Zeit doch recht durchgekaut. Dass religiöser Fanatismus zu einem gefährlichen Tunnelblick führt, dürfte heutzutage ohnehin allgemeiner Konsens sein und Bens Forderung nach mehr Liebe, die häufig in sexuellen Orgien mündet, hat bei der Lektüre zunächst zwar ein amüsiertes Überraschungsmoment ausgelöst, wird auf Dauer jedoch eher ermüdend und wirkt allzu bemüht provokant.

Unsere Gesellschaft, die das Lieben verlernt und sich in starre bürokratische Strukturen geflüchtet hat, wird von Ben verdammt, insbesondere die Politiker und Großindustriellen.  Wunder vollbringt er nur an den "kleinen" Leuten. Diese etwas anarchistische Einstellung wirft die Frage auf, was Ben eigentlich verändern zu können glaubt - letztlich ist von Anfang an klar, dass seine Verzweiflung an der Welt und sein Versuch, sie mit Liebe zu heilen, zum Scheitern verurteilt ist. Der Mensch ist eben Mensch. Fehlbar und schwach.

Zu allem Überfluss erinnert Bens leiblicher Bruder Jakob eher an den biblischen Kain: Er scheint alle negativen Eigenschaften dieser Welt in sich zu vereinen und gerät damit dem unglaubwürdigsten Charakter überhaupt. Seine Bosheit, sein Neid und sein Hass sind derart monströs, dass er den Leser / die Leserin beizeiten nur noch nervt.

Nun ja. Was das Buch jedoch wirklich interessant macht, ist die Tatsache, dass jedes Kapitel aus der Perspektive eines anderen erzählt wird, niemals aus der Sicht von Ben selbst. Da ist Mariaangeles, eine einfache Frau aus dem „Ghetto“, die später Bens feste Lebenspartnerin wird, da sind ein Arzt, ein farbiger Schwuler, eine traurige dicke Frau, ein Obdachloser und viele weitere, die von Ben erzählen. Oft wiederholen sich diese Erzähler in ihren Beschreibungen, jedoch ist Frey die Erzählstimme eines jeden von ihnen so authentisch gelungen, so dass man einige wirklich liebgewinnt. 

Dass Frey mit diesem Buch provozieren wollte, merkt man leider allzu häufig, seine „Schocker“ wirken recht bemüht. Die Figur Ben ist anfangs zwar wirklich faszinierend, steht aber immer am Abgrund zum Klischee vom Oberhippie. Dennoch ist das Buch durchaus interessant und spannend – man will wissen, wie diese Geschichte vom modernen Jesus zu Ende geht, auch wenn man dafür einige etwas anstrengende Wiederholungen in Kauf nehmen muss.