Montag, 14. März 2011

Die Bürde der Vergangenheit


Mara und Dann von Doris Lessing. Diesen Roman habe ich eher zufällig in einer Kiste mit Mängelexemplaren in einem großen Kaufhaus entdeckt. Ich war vor allem neugierig auf Doris Lessing, über die ich nicht mehr wusste, als dass sie vor einigen Jahren den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte. Lessing, Jahrgang 1919, schrieb Mara und Dann im Alter von bereits 80 Jahren und sie veröffentlicht auch weiterhin bis heute regelmäßig neue Werke, ihr letzter Roman erschien 2008!

Ich erwartete einen schwierigen, anstrengenden Schreibstil, wie das halt meist bei Preisträgern so ist (manchmal denke ich, je verschwurbelter ein Autor schreibt, desto eher heimst er Preise ein. Die Leute scheinen zu denken, dass etwas, das vollkommen unverständlich formuliert ist, besonders intelligent sein muss). Aber in dieser Hinsicht erwartete mich eine Überraschung: Lessings Sprache ist nüchtern und schmucklos, wirkt zuweilen gar nebensächlich, auf die Eigenschaft als Medium für den Inhalt reduziert.

Erzählt wird die Geschichte von Mara und Dann, einem Geschwisterpaar aus der fernen Zukunft. Unsere Gegenwart ist für sie graue Vorzeit, gilt als hoch entwickelte Kultur mit Techniken und Materialien, deren Herstellung und Funktion in ihrer Zeit nicht mehr bekannt sind. Nach einer weiteren Eiszeit leben Mara und Dann in einer uns unbekannten Welt. Das Eis schob sich über die gesamte nördliche Hemisphäre, Kulturen gingen unter, neue entstanden und vergingen erneut. Mara und Dann flüchten vor einer seit Jahren andauernden Dürre vom Süden in den Norden „Ifriks“, jenes Kontinents, den wir Afrika nennen. Sie durchqueren Regionen, die von verschiedenen Völkern und Dynastien beherrscht werden. Das Wissen um die eigene Herkunft, die Geschichte der Menschheit, selbst das Verständnis für die Natur, sind verloren gegangen. In gewisser Weise sind die Menschen wieder in der Steinzeit angelangt, nur Bruchteile unseres heutigen Wissens sind bekannt. Man lebt mit Überresten aus anderen Zeiten, ohne sie zu verstehen. Für Mara ist dies quälend, sie ist getrieben von einem Wissenshunger, von einem Drang zu verstehen, die Vergangenheit zu kennen. Ihr Bruder Dann hingegen kämpft mit eigenen Dämonen, wird häufig beherrscht von alten Traumata, die seine Handlungsweisen bestimmen.

Mara und Dann sind zwei komplexe Charaktere, die sich zwar mehrfach aus den Augen verlieren, aber immer wieder zueinander finden. Die Not, die sie erleben, innere wie äußere, ist mitunter auch für den Leser quälend, wird von Lessing schonungslos und detailreich beschrieben. Aber sich gegenseitig rettend, sind Mara und Dann immer weiter auf dem Weg gen Norden.

Was auf den ersten Blick wie eine Abenteuergeschichte scheint, ist tatsächlich aber viel mehr. Heute leben wir in einem Zeitalter, in dem recht viel über die Geschichte der Menschheit bekannt ist. Dabei ist uns meist nicht klar, dass die Menschheit eigentlich noch jung ist. Mara und Dann leben in Tausenden von Jahren in der Zukunft, und die Vergangeheit, sowohl die eigene als auch jene der ganzen Welt,  ist eine Bürde, die zu schultern Mara sich verpflichtet fühlt. Sie hat einen Drang nach Wissen, der nicht befriedigt werden kann, weil vieles – für uns ganz Selbstverständliches - für immer verloren ist. So ist Geschichte für sie Fluch und Segen zugleich. Zum einen identitätsstiftend: Der Drang nach Wissen um die eigene Herkunft und  nach Verständnis für die Welt zeichnet den Menschen aus und macht ihn zum Menschen. Zugleich empfindet Mara jedoch Scham: Die übermächtigen Kulturen der „grauen Vorzeit“ wussten und konnten so viel mehr. Das zeigt sich besonders im Hinblick auf eine bestimmte Epoche, in der Dinge für die Ewigkeit hergestellt wurden: braune Kittel, Häuser, Töpfe und Kannen aus dieser Zeit sind immer noch in Gebrauch, weil sie nie Abnutzungserscheinungen zeigen. Das macht diese Gegenstände einerseits unermesslich wertvoll, zugleich werden sie jedoch von den Menschen in Maras und Danns Zeit gehasst.  Nicht nur, weil diese Gegenstände als hässlich empfunden werden, sondern weil nichts für die Ewigkeit geschaffen werden sollte, weil die Gegenstände allein durch ihre bloße Anwesenheit die Überlegenheit vergangener Zeiten demonstrieren und Neues durch dessen geringere Qualität immer minderwertig sein wird. Ein Leben im übermächtigen Schatten der Vergangenheit.

Die Geschichte von Mara und Dann ist sowohl auf der Handlungsebene als auch in psychologischer und philosophischer Hinsicht 
ungeheuer interessant und hat mich neugierig auf mehr von dieser Autorin gemacht. Ein wenig habe ich mich bereits kundig gemacht: Lessing scheint sich in ihren Büchern stark mit dem Begriff der Zivilisation an sich beschäftigt zu haben. Ich sollte auch erwähnen, dass sie einen großen Teil ihrer Kindheit im heutigen Simbabwe verbracht hat. In ihrem ersten Roman Afrikanische Tragödie aus dem Jahr 1949 kritisierte sie die Apartheit und erhielt daraufhin ein jahrzehntelang fortdauerndes Einreiseverbot für Simbabwe und Südafrika. Das Thema der Zugehörigkeiten zu bestimmten ethnischen Gruppen  sowie den  daraus resultierenden Konflikten wird auch in Mara und Dann  immer wieder aufgegriffen. Fazit: Die Menschen lernen nichts aus der Geschichte. Sie verdrängen die Geschichte einfach.

Wer ein wenig mehr über Doris Lessing erfahren möchte - hier gehts zum Spiegel-Online Artikel von 2007, dem Jahr, in dem sie den Nobelpreis erhielt. Dort findet ihr einige Angaben zu ihrer Biographie sowie Reaktionen auf die Preisverleihung.

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